Kampfmittelbergung
Kampfmittelsanierung des Dethlinger Teichs
Der Dethlinger Teich ist eine ehemalige Kieselgur-Grube, in die während und nach dem Zweiten Weltkrieg Sprengstoffe und chemische Kampfstoffe in bundesweit einmaligen Mengen versenkt wurden. Da keine schriftlichen Dokumente oder Zähllisten dazu existieren, besteht über die tatsächlich versenkten Munitionsmengen große Unsicherheit. Im Oktober 2023 begann die behutsame Bergung der Kampfmittel, für die fünf Jahre (bis Juni 2028) und Kosten von mehr als 80 Mio. Euro veranschlagt wurden. Vor dem Start der Räumungsarbeiten wurde das Areal auf den Einsatz der Kampfmittelexperten vorbereitet.
Ursprünglich ist der Dethlinger Teich in der Nähe der Stadt Munster durch den Abbau von Kieselgur bis in die 1920er-Jahre entstanden. Dieses erdige Gestein besteht hauptsächlich aus den Schalen fossiler Kieselalgen. Aufgrund seiner amorphen Struktur und seiner hohen Wasseraufnahme- Kapazität wurde Kieselgur seit dem 19. Jahrhundert zur Trocknung von Flüssigkeiten, Wasserspeicherung und Filtrierung eingesetzt. In der Landwirtschaft nutzte man den Rohstoff vor allem bei der Schädlingsbekämpfung (Austrocknung von Parasiten). Der beim Kieselgur-Abbau entstandene Dethlinger Teich hatte einst einen Durchmesser von 60 Metern.
Nutzung als Lager- und Entsorgungsstelle
Während des Zweiten Weltkriegs begann man bereits, den Teich als Entsorgungsstelle für Rüstungsmaterial zu nutzen und dort Kampfmittel, Kampfstoffe und Abwasser einzubringen. Nach 1945 versenkte die British Army dort weitere große Mengen gefährlicher Kampfstoffe und Weltkriegsmunition – vermutlich vor allem alte Wehrmachtsbestände.
1952 wurde der Teich mit altem Bauschutt zugeschüttet und mit einer Deckschicht versehen. Das Gelände ist seitdem für die Öffentlichkeit gesperrt. Kameras überwachen, dass niemand das Gelände unerlaubt betritt; rund um den Teich ist Sperrzone.
Warum jetzt doch Bergung?
Fast fünfzig Jahre schlummerten die Kampfmittelreste im zugeschütteten Dethlinger Teich. Dann wurden in den 1990er-Jahren immer wieder erhöhte Konzentrationen von Arsen und anderen Giften (z. B. auch diverse Abbauprodukte von LOST) im Grundwasser nachgewiesen – denn, anders als angenommen, sind Kieselgur- Gruben doch wasserdurchlässig und haben giftige Substanzen aus Bomben und Granaten ans Grundwasser abgegeben. Das kontaminierte Grundwasser und die nicht genau kalkulierbaren Kampfmittel, u. a. Munitionsreste und Giftgas, führten immer wieder zur Verunsicherung der Bevölkerung, sodass sich der Landkreis Heidekreis zunächst für eine Erkundung der Kampfmittelaltlasten im Dethlinger Teich entschloss.
Kampfmittelerkundung zur Umfangsbestimmung
Bei der Erkundung des Teichs zwischen September 2019 und März 2020 an drei Teilflächen wurden insgesamt 2.552 Stück Kampfstoffmunition geborgen. Aufgrund dieser Funde geht man derzeit von bis zu 30.000 Granaten und anderen Weltkriegsüberbleibseln im Dethlinger Teich aus. Aber wie viele Kampfmittel es konkret sind, ist noch völlig unklar.
Ein Großteil der Munition stammt aus der benachbarten Muna, der „Munitionsanstalt“. Hier wurden verschiedenste chemische Kampfstoffe in Bomben abgefüllt und gelagert. Nach der Kapitulation 1945 übernahmen die Briten kampflos die Anlage – mitsamt etwa 100.000 Kampfstoffbomben. Einen Großteil der Munition transportierten sie ab, einiges landete damals aber eben auch im Dethlinger Teich. Wie viel und was im Einzelnen im Teich verschwand bzw. was dort schon vorher lagerte, wurde nie dokumentiert. Vermutlich müsse man unter anderem mit einigen Tausend Kampfstoffgranaten, mit Hunderten Phosgenbomben und mit etwa 100 Fässern mit dem Hautkampfstoff LOST, auch bekannt als Senfgas oder Gelbkreuz, rechnen.
Die Bewertung der Erkundung dieser – inzwischen als bundesweit einmalig ermittelten – Rüstungsaltlast im Jahr 2019 bzw. 2020 hat ergeben, dass der Inhalt der Altlast in Verbindung mit dem ermittelten Schadstoffabstrom im Grundwasser eine Sanierung des ehemaligen Dethlinger Teichs erforderlich macht.
Das Sanierungsprojekt
Im Frühjahr 2020 starteten dann schon die ersten Schritte für die Sanierung wie Baufeldfreimachungen, Ausschreibungsorganisation und Abstimmungsgespräche mit der GEKA (Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungs- Altlasten). Auftraggeber der Sanierung des Dethlinger Teichs ist der Landkreis Heidekreis, der sowohl die vorbereitenden Arbeiten wie die Errichtung von Spundwand, Infrastruktur, Container, Zelt bzw. Halle als auch die Organisation des Rettungsdiensts öffentlich ausschrieb.
Die Sanierungsarbeiten – die Räumleistungen – selbst werden als gefährliche Arbeiten eingestuft, da damit die Öffnung des Teichs verbunden ist, und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ausgeführt. Geplant ist der Abschluss der Sanierungsarbeiten im Sommer 2028. Die Leistungen werden in zwei aufeinanderfolgende Räumphasen unterteilt.
Die Leistungen der ersten Räumphase, die von Oktober 2023 bis September 2024 dauern soll, werden von der ARGE (Arbeitsgemeinschaft) Dethlinger Teich – bestehend aus den Firmen Schollenberger Kampfbergung GmbH und Tauber Delaborierung GmbH – ausgeführt. Die zweite Räumphase folgt dann nach einer Wartungspause ab Herbst 2024.
Die geborgenen Kampfmittel werden dann von der GEKA, einer bundeseigenen Gesellschaft, die zum Bundesverteidigungsministerium gehört, entsorgt.
Maßgeblich betreut und koordiniert werden sowohl die Vorbereitungs- als auch die Sanierungsarbeiten im Heidekreis durch die Fachgruppe Wasser, Boden und Abfall.
Sicherheitsmaßnahmen bei der Sanierung
Die Sanierung wird unter einem sehr großen Sicherheitsaufwand stattfinden. Um eine mögliche Freisetzung chemischer Kampfstoffe an die Umgebung zu verhindern, werden die Sanierungsarbeiten in einer Einhausung mit entsprechender Lüftungstechnik stattfinden und ständig messtechnisch begleitet. Im Containerbereich, insgesamt 34 Container (Büros, Umkleide- und Sanitärräume, Sozialraum, Besprechungsraum etc.), sind zwei schutzbelüftete Bereiche (fünf Container) vorgehalten.
Um bei einem Stromausfall weiter die Sicherheit von Mitarbeitenden und Umgebung zu gewährleisten, ist eine 250-kVA-Notstromversorgung installiert worden. Alle entsprechenden Maßnahmen bzw. ein detailliertes Sicherheitskonzept dazu wurden von der Ingenieurgesellschaft Mull und Partner Hannover im März 2023 vorgelegt. Dazu wird parallel für einen Worst-Case-Fall die potenzielle Ausbreitung einer Gefahrstoffwolke über die Luft anhand der jeweils aktuellen Wetterbedingungen berechnet.
Vor dem Start der Bergungsarbeiten
Die Erschließung der Baustelle mit Strom, Abwasser und Glasfaser wurde Ende 2021 durchgeführt. Damit die Altlasten des Teichs geborgen werden können, musste parallel das Grundwasser abgesenkt und dann gereinigt werden.
Aufbau der Grundwasser-Reinigungsanlage
Um eine Absenkung und spätere Reinigung zu ermöglichen, wurde im September 2022 ein Spundwandkasten mit den Abmessungen von ca. 106 m × 97 m und einer Einbindetiefe von 22 m erstellt. Die eigens erbaute Grundwasser-Reinigungsanlage ermöglicht so eine Regelung des Pegels sowie auch eine Reinigung des abgesaugten Wassers.
Errichtung der Bergungshalle
Darüber hinaus wurde ab Dezember 2022 die ca. 10.000 m² große Bergungshalle errichtet – eine freitragende Stahl-Leichtbau-Halle, die das gesamte Areal überdeckt und umschließt. Mit einer Größe von ca. 106 m × 97 m und einer Höhe von knapp 25 m handelt es sich momentan um die größte freitragende Halle dieser Bauart in Europa.
Weitere Schutzbereiche
Des Weiteren wurden zwei weitere Hallen und drei Schleusen an die Bergungshalle angebaut. So gibt es eine 20 × 10 m große ERT-Halle (Erfassung-Röntgen-Transportvorbereitung von Munition) sowie eine Distributionshalle zum Abtransport des Aushubmaterials aus dem Teich. Um das Bergungsareal herum stehen Splitterschutzvorrichtungen und Erdwälle, um mögliche Detonationen zu dämpfen.
Einrichtung von Schwarz-Weiß-Bereichen
Die eingehauste Bergungshalle und die Nebenhallen sind im Sinne des Arbeitsschutzes der sogenannte Schwarz-Bereich. Dieses Areal darf nur über spezielle Schleusen sowie mit Schutzanzug und einer Vollmaske betreten werden.
Das Schwarz-Weiß-Prinzip
Um kontaminierte von nicht kontaminierten, sauberen Bereichen bzw. Außen- und Innenbereichen zu trennen, wurden spezielle Schwarz-Weiß-Bereiche eingerichtet. Durch das sogenannte Schwarz-Weiß-Prinzip soll eine Verschleppung unerwünschter Stoffe insbesondere durch Personen vermieden werden. Das Prinzip wurde in den 1920er-Jahren im Bergbau eingeführt, wo es zunächst nur darum ging, den sehr schmutzigen Arbeitsbereich und die entsprechend verschmutzte Arbeitskleidung von der sauberen Alltagskleidung fernzuhalten. Mittlerweile wird das Schwarz-Weiß-Prinzip heute im Bereich Hygiene, bei Dekontaminationsarbeiten sowie im Zivil- und Katastrophenschutz eingesetzt.
Schleusen für den Zutritt zu den Schwarz-Weiß-Bereichen
Der Zutritt für Beschäftigte erfolgt grundsätzlich über Personenschleusen. In den dreiteiligen Schleusen erfolgen das An- und Ablegen der Schutzkleidung sowie die ggf. notwendige Dekontamination eines verletzten (Chemie-)C-Feuerwerkers. Die Schleusen sind an die Abluftreinigung angeschlossen, d. h., es erfolgt ein gerichteter Luftstrom vom Weiß- zum Schwarz-Bereich.
Damit der Fahrer des Hybrid-Kettenbaggers (Diesel- und Elektroantrieb) hiervon losgelöst tätig werden kann, betritt er seinen Bagger über eine spezielle Schleuse. In Verbindung mit der Panzerung und der Schutzbelüftung kann er so seiner Tätigkeit ohne Reduzierung seines Schutzes nachkommen. Für die Arbeiten bei der Kampfmittelräumung nutzt der Bagger, der für die Bergungsarbeiten als Sonderanfertigung angeschafft wurde, einen Elektro-Anschluss. Für die Fahrten zur Schleuse besitzt er zudem einen Dieselmotor.
Monitoring der Räumaktionen
Über zahlreiche Kameras werden die Arbeiten in den verschiedenen Bereichen der Räumstelle verfolgt. Per Sprechfunk koordiniert der Räumstellenleiter die Räumarbeiten. Seinen Anweisungen haben alle auf der Räumstelle anwesenden Personen Folge zu leisten.
ERT-Arbeiten
Mit der Unterzeichnung des Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ) hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, der Kontrollstelle OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) im niederländischen Den Haag jedes gefundene Stück Kampfstoffmunition zu melden und nach deren Freigabe und Kontrolle zu vernichten. Hierzu muss jedes Kampfmittel mit Foto und Röntgenbild erfasst werden. Diese Arbeiten finden normalerweise bei der GEKA in Munster statt. Sie sollen nun aber vor Ort in der ERT-Halle durchgeführt werden. Hierdurch kann der Umfang der Arbeiten auf dem Gelände der bundeseigenen GEKA reduziert werden, was letztendlich die maximal zu vernichtende Anzahl an Kampfmitteln erhöhen soll. Die Planungen basieren auf den schon erwähnten 30.000 Stück Kampfstoffmunition.
Training der Kampfmittelräumer
Vor ihrem ersten „richtigen“ Einsatz trainieren die Kampfmittelspezialisten mehrere Wochen ihren Einsatz in Ganzkörper-Schutzanzügen und Atemschutz. Für die Arbeit im sogenannten Vollschutz gelten spezielle Regelungen – u. a. eine Limitierung der zulässigen Arbeitszeit. Die Beschäftigten können nur 84 Minuten am Stück im Einsatz sein, bevor sie abgelöst werden müssen. Aus Sicherheitsgründen dürfen nur zwei Beschäftigte gleichzeitig in der Bergungshalle sein.
Startschuss im August 2023
Am 14. August 2023 begannen die vorbereitenden Arbeiten zur Bergung in der Halle, wobei zunächst die Bodenschichten abgetragen wurden. Die oberste Schicht ist noch munitionsfrei, weil sie für den Bau der Halle aufgebraucht wurde. Insgesamt muss der Boden auf 3.600 m² bis zu etwa zwei Meter Tiefe abgetragen werden. Die Munition selbst wird seit Oktober 2023 geborgen.
Ablauf der Bergungsarbeiten
Ausgehend von der Kapazität der in Munster ansässigen Gesellschaft zur Entsorgung chemischer Kampfstoffe und Rüstungsaltlasten sind die Arbeiten zunächst für einen Zeitraum von fünf Jahren geplant. An 180 Tagen im Jahr wird die Munition gefördert. Die Kampfmittelspezialisten in der Halle, die später von Hand ihre Arbeit verrichten, also jedes der geschätzten 30.000 Kampfmittel in der Hand haben werden, sind durch Schutzanzüge und Atemschutzmasken vor den giftigen Gasen geschützt. Eine erste Kostenschätzung des Heidekreises ergab 2015 Gesamtkosten von 50 Mio. Euro für die Sanierung dieser bundesweit einmaligen Rüstungsaltlast. Wegen gestiegener Kosten und unter der Annahme, dass sämtliche Teichinhalte entsorgt werden müssen, liegen die Gesamtkosten derzeit bei rund 80 Mio. Euro.
Ausblick
Schon die Vorbereitung der Sanierung des Dethlinger Teichs zeigte, dass man angesichts des enormen Kampfmittelumfangs und der fehlenden Dokumentation mit Herausforderungen umgehen muss, die für alle Beteiligten in dieser Form neu sind und die teilweise auch individueller Anpassungen in der Umsetzung bedürfen. Nach Abschluss der ersten Räumphase im September 2024 wird eine ausführliche Darstellung der Bergungsmaßnahmen möglich sein, die sicher auch in der Zeitschrift BauPortal aufgegriffen wird.
Daten zum Dethlinger Teich
Durchmesser:
ca. 60 m
Tiefe:
ca. 9–12 m
Fläche:
ca. 3.600 m²
Volumen:
ca. 30.000 m³
Geologie:
überwiegend sandiges Bodenmaterial, in tieferen Lagen grundwasserhemmende Lagen aus Ton, Schluff (Lehm) und Kieselgur
Hydrologie:
Grundwasserstand i. d. R. 0,5–2,0 m unter Geländeoberkante (GOK), bei starken Niederschlägen auch oberflächennah
Geschätzte Kampfmittelbelastung:
30.000 Stck. Kampfstoffmunition unterschiedlicher Kaliber
Größe Bergungshalle:
10.000 m²
Autoren
Ausgabe
BauPortal 4|2023
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