Ingenieurbau
Technischer Gigant Schiffshebewerk Niederfinow
Im Rahmen des „Anti-Stau-Programms“ der Bundesregierung aus dem Jahr 2000 entsteht in Niederfinow im Land Brandenburg ein neues, modernes Schiffshebewerk. Es wird voraussichtlich 2021 das älteste noch arbeitende Schiffshebewerk in Deutschland aus dem Jahr 1934 ablösen, dessen Kapazitäten für den aktuellen und künftigen Güterschiffsverkehr nicht mehr ausreichten.
Zwei gigantische Schiffshebewerke unmittelbar nebeneinander und noch dazu an einem Kanal sind weltweit sicherlich einmalig. Als technische sowie architektonische Meisterwerke überragen sie die reizvolle Landschaft des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin. Die Aussicht von der jeweiligen Besucherplattform hoch oben in die Umgebung ist einzigartig. Ebenso der Anblick des jeweilig benachbarten Bauwerks aus nächster Nähe.
Alt versus neu
Die Funktion beider Schiffshebewerke ist gleich: Mittels eines aufgehängten Stahltrogs werden Schiffe über einen Geländesprung von 36 m aus dem Oder- in den Havelkanal gehoben und umgekehrt. Ähnlich einem Aufzug. Das 52 m hohe historische Hebewerk steht seit 1934 und ist mit über 2 Mio. Nieten fest miteinander verbunden. Das neue misst 54,55 m in der Höhe und entstand als moderne Stahlbeton-Rahmenkonstruktion. Nach zwölfjähriger Bauzeit läuft derzeit die Inbetriebsetzungsphase.
Für den Neubau des Senkrechthebewerks neuer Generation in Niederfinow Nord existieren mehrere Gründe. Zum einen wurde damals zunehmender Güterschiffsverkehr mit 4,4 Mio. Gütertonnen jährlich prognostiziert. Zum anderen passen moderne Schiffe mit bis zu 110 m Länge nicht in das 85 m lange „Nadelöhr“, wie das alte Hebewerk genannt wird, und können ihre Ladekapazität nicht ausnutzen. Deshalb werden momentan Schubverbände vor Hebung geteilt. Heutiger Containerverkehr fordert zudem eine Durchfahrtshöhe von 5,25 m, um wirtschaftlich zu sein. Auch die ist nicht gegeben. Wartung und Unterhalt des alten Hebewerks werden zunehmend teurer, da passende Ersatzteile für Antriebs- und Sicherungstechnik extra angefertigt werden müssen, um ins denkmalgeschützte Bauwerk zu passen.
Planung und Vorarbeiten
Den Planungsauftrag für den Neubau erhielt das Wasserstraßen-Neubauamt Berlin bereits 1992. Nach zehnjähriger Entwurfsphase legte das Team um Bauingenieur und Architekt Udo Beuke von der Bundesagentur für Wasserbau Karlsruhe einen Plan vor. Seine größte Herausforderung sah der Architekt darin, wie er betont, „die Megaskulptur Schiffshebewerk in eine so sensible Landschaft einzufügen.“ Dabei ließ er sich von der Hallenkirche des Klosters Chorin in der Nähe inspirieren.
Unter Regie einer ARGE (technische Geschäftsführung: Implenia Konstruktion GmbH, Niederlassung Nordost, kaufmännische Geschäftsführung: DSD Brückenbau GmbH, Johann Bunte Bauunternehmung GmbH & Co. KG und SIEMAG TECBERG) starteten 2009 die ersten Aushubarbeiten. Parallel dazu begannen landschaftliche „Widergutmachungen“. Angefangen vom Schutz der Roten Ameise, der Fischotter und der Biber bis hin zum Aufforsten des Walds. Beim unteren Vorhafenausbau wurden 100.000 m3 Torfboden ausgehoben und zumeist im Unterhafen der stillgelegten Schleusentreppe wieder eingebaut. So können die geschützten Torfmoorböden in einem künstlich angelegten Moorstandort erhalten werden.
Bauaufgabe:
Neubau Schiffshebewerk Niederfinow Nord
Bauherr:
Bundesrepublik Deutschland, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt
Wasserstraßen-Neubauamt Berlin
Auftragnehmer:
ARGE „Neues Schiffshebewerk Niederfinow Nord“ mit Implenia Construction GmbH
DSD Brückenbau GmbH
Johann Bunte Bauunternehmung GmbH und Co. KG
SIEMAG TECBERG
Bautechnische Prüfung:
KREBS+KIEFER
Konstruktionsprinzip
Die komplexe Hybridkonstruktion aus Stahl- und Massivbau beruht auf dem bewährten Prinzip eines Senkrechthebewerks mit Gegengewichtsausgleich und Trogsicherung. Vier Motoren mit je 218 PS erzeugen die Energie zum Überwinden von Reibung, Anfahrtswiderstand, Massenträgheit und Wasserspiegeldifferenzen. Sämtliche druckbelastete Teile wie Trogwandsohle, vier Pylone und zwölf paarweise angeordnete Seilrollenträgerstützen bestehen aus Beton. Mit obenliegenden Seilrollenträgern aus Stahl bilden sie eine biegesteife Verbindung und sorgen für die Standsicherheit des gesamten Hebewerks.
Der biegebeanspruchte Trog besteht ebenfalls aus Stahl. Für die Baugrube (6.100 m² bei einem Umfang von 395 m) dient eine Trägerbohlwand als Einfassung. Unbewehrt wurde darin eine 1,20 m dicke Unterwasserbetonsohle eingebracht. Ebenso 1.034 Anker im Raster von 3,20 m.
Die Sohle der darauf errichteten weißen Trogwanne misst 2,40 m. Ihre Seitenwände sind zwischen 1,50 m (oben) und 3,00 m (unten) stark. Im Mittelpunkt der Konstruktion hängt ein wassergefüllter Trog, befestigt an 224 sechs Zentimeter dicken Stahlseilen. Ferner gehören eine 65,5 m lange Kanalbrücke mit Widerlager, ein Hubtor als Sicherheitstor und ein Drehsegmenttor als Abschluss für die obere Haltung zum Projekt. Dazu ein oberer, 440 m langer Vorhafen, der aus der Scheitelhaltung der Havel-Oder-Wasserstraße abzweigt, und ein unterer Vorhafen mit einem nördlichen, 440 m langen Böschungsufer sowie einem 360 m langem Südufer. Der Trog selbst ist 125,50 m lang und im Bereich der Antriebe 27,90 m breit, in etwa so breit und mehr als doppelt so lang wie ein olympisches Schwimmbecken. Die für die Schifffahrt nutzbare Breite des Trogs beträgt 12,50 m. Die Pylone stehen bei 6,40 m über NN auf der Trogwanne und sind somit im unteren Außenwandbereich Teil der Wanne. Sie reichen bis 11 m unter das Gelände und 52,30 m darüber hinaus. Der Querschnitt eines Pylons ist durch den Trogantriebsraum in seinem Inneren sowie durch Abmessungen der Treppen, der Durchgänge und des Krans für Wartungsarbeiten im 14. Geschoss bestimmt.
Eine technische Besonderheit stellt die Sicherung des Trogs dar. Vier jeweils 10 t schwere Drehriegel bewegen sich berührungsfrei innerhalb über die gesamte Höhe reichender aufgeschlitzter Muttern (Mutterbacken) in den vier Pylonen. Dadurch gelingt es, selbst bei unkontrolliertem Wasserverlust, die Stellung zu sichern.
Über speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS) und Sensoren lässt sich das neue Schiffshebewerk künftig im Automatikbetrieb bedienen.
Die Planungen aller Gewerke müssen als Gesamtanlage funktionieren, um der Maschinenrichtlinie (2006/42/EG (CE-Konformität) gerecht zu werden. Da galt es z. B., Verformungen der Pylone aus später aufgebrachten Lasten und aus Temperaturschwankungen zu berücksichtigen und extreme Genauigkeiten einzuhalten. Die im Kletterverfahren errichteten Pylone erlaubten oben nur eine maximale Lagedifferenz von ±20 mm bei 10 °C Außentemperatur gerechnet. Die Betonage musste auf alle Tagestemperauren genauestens abgestimmt werden, um den geeigneten Zeitpunkt zu definieren. Denn davon hing die präzise Schalung ab. Teilweise arbeiteten bis zu 300 Menschen auf der Baustelle. Da galt es, Bauabläufe genau zu terminieren und Verständnis zwischen Stahl- und Betonbauern zu schaffen. Klaus Winter: „Zwischenzeitlich änderte und verteuerte sich der Stahlmarkt. Auch bautechnische Anpassungen waren unumgänglich. So sollte die Mutterbackensäule (Sicherungssystem) ursprünglich mit einem Ankersystem einzelner Elemente in der Rahmennische befestigt werden. Jetzt ist es eine Konstruktion geworden, die aller 4 m punktuell an einbetonierten Teilen befestigt wurde. Die Gewindehälften der Mutterbackenelemente mussten dafür in der Basis auf 0,2 mm Höhendifferenz genau ausgerichtet werden. Dieser Anspruch an Genauigkeit zog sich über den gesamten Bauverlauf bis hin zur Produktion der 220 43,5 t schweren Gegengewichtsblöcke. Sie wurden mit einer Abweichung von der geplanten Soll-Masse mit weniger als 1 % hergestellt.
Unfallfreie Baustelle
So präzise wie das Bauwerk sukzessive entstand, achteten alle genau auf unfallfreies, sicheres Arbeiten. Klaus Winter: „Um effektiv arbeiten zu können, mussten verschiedene Gewerke oft übereinander arbeiten. Kommunikation war da alles. Ich denke da nur an den Einbau der Seile, die aus knapp 40 m Höhe herabfallen und dabei ihre Eigendynamik entwickeln. Die Monteure haben gleichzeitig oben an der Seilscheibe, an den zwei Punkten, wo das Seil angeschlagen wird, und an der Stelle, wo das Seil abgewickelt wird, gearbeitet. Im Einklang mit Kran- und Windenführer. Es funktionierte, weil sich alle an die abgesprochenen ‚Spielregeln‘ hielten.“ Für jede Maßnahme galt ein Sicherheitsplan, in dem wöchentlich festgelegt wurde: Wer arbeitet an welchen Platz zu welchem Zeitpunkt, wer gleichzeitig, wer darf sich wo aufhalten und wer nicht. Einmal monatlich trafen sich dazu Bauherr, Auftragnehmer, Sicherheits- und Gesundheitskoordinator (SiGeKo), Berufsgenossenschaft und Landesamt für Arbeitsschutz, um die Sicherheitskonzepte je nach Gefährdungspotenzial der jeweiligen Bauarbeiten zu aktualisieren.
So kamen u. a. zusätzliche Abtafelungen unter Brückenbauten zum Einsatz, ebenso Schutzbleche. Der Gehweg unmittelbar neben dem Bauwerk wurde gesperrt. Kleinste Rüstungen wurden mit Treppenaufgänge gesichert. Der Erfolg spricht für sich. Während der gesamten Bauzeit gab es keine nennenswerten Verletzungen.
Schiffshebewerk - Niederfinow im Land Brandenburg
© BG BAU
Ausblick
Das Schiffshebewerk steht heute fast fertig. Zweifelsohne ein Meisterwerk aller Beteiligten und neben dem historischen ein weiterer Besuchermagnet der Region. Die ersten Troghebungen bestanden ihre Prüfung. Im nächsten Jahr soll die Anlage in Betrieb gehen. Es wird sicher die letzte dieser Dimension in Deutschland sein. Deshalb hofft nicht nur der Bauherr auf mehr Auslastung der Wasserstraßen und regen Schiffsverkehr zwischen Berlin und Szczecin. Denn leider genießt die Straße trotz aller Prognosen und Anti-Stau-Programms, trotz Lkw-Kollaps auf Straßen und Autobahnen auch im Jahr 2020 immer noch mehr Lobby. Auch für Klaus Winter ist das ein Unding. Er will das neue Schiffshebewerk in Action erleben.
Autorin
Ausgabe
BauPortal 4|2020
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