Dach- und Zimmererarbeiten
BIM-Anwendungsfall Absturzsicherung
Das derzeit wichtigste Trendthema der Bauwirtschaft – Building Information Modeling (BIM) – nimmt auch hierzulande an Fahrt auf. Da sich mithilfe von BIM sichere und gesunde Arbeitsplätze auf Baustellen systematisch planen, koordinieren, umsetzen und prüfen lassen, unterstützt die BG BAU die Partner am Bau mit der Entwicklung des BIM-Anwendungsfalls Absturzsicherung.
Bei Building Information Modeling beginnt alles mit der Planung des digitalen 3D-Modells aus attribuierten Bauteilen (Attribute: Sachinformationen zum Bauteil), also der Kombination von 3D-Geometrie mit alphanumerischen Informationen. Es dient als zentrale Softwareplattform für integriertes Design, Modellierung, Planung und Zusammenarbeit, sodass alle Beteiligten mit der digitalen Darstellung der Eigenschaften eines Bauwerks in seinem gesamten Lebenszyklus versorgt werden.
Dimensionen und Anwendungsfälle
BIM-Modelle können mehrere Dimensionen aufweisen, wie etwa ein 3D-Modell zuzüglich Zeitdimension (4D) und zuzüglich Kostendimension (5D) etc. Mithilfe der im BIM-Modell abgebildeten und verwalteten räumlichen Strukturen, Bauteile und Attribute lassen sich dann unterschiedliche Analysen, Visualisierungen und Planungen durchführen.
In sogenannten Anwendungsfällen (engl. use cases) wird definiert, wer welche Informationen zu welchem Zeitpunkt in welchem Format und in welchem Detaillierungsgrad zur Verfügung stellt, um ein bestimmtes Ergebnis bzw. einen bestimmten Nutzen zu erreichen.
Da das Thema Absturzunfälle in der Bauwirtschaft nach wie vor eine herausragende Rolle bezüglich der Schwere von Verletzungen spielt, entschied sich die BG BAU zusammen mit interessierten Partnern, den BIM-Anwendungsfall Absturzsicherung zu entwickeln. Ziel ist es, Auftraggebenden, Planenden und Ausführenden zu demonstrieren, wie sich die modellbasierte Planung zur Vermeidung von Absturzunfällen auf Baustellen nutzen lässt. Wer Kompetenzen entwickelt, hat bessere Möglichkeiten, nachfolgend zu gestalten.
Analyse des Unfallgeschehens offenbart Handlungsbedarf
Wie in der Begründung der Baustellenrichtlinie (Richtlinie 92/57/EWG des Rates vom 24. Juni 1992) ausgeführt, haben in mehr als der Hälfte der Arbeitsunfälle auf Baustellen in der Gemeinschaft nicht geeignete bauliche und/oder organisatorische Entscheidungen oder eine schlechte Planung der Arbeiten bei der Vorbereitung des Bauprojekts eine Rolle gespielt. Daher müssen sich Bauherren bereits in der Planungsphase gedanklich mit Arbeitsschutzaspekten beschäftigen. Dazu gehört, relevante Informationen verständlich sowie verfügbar zu machen und dafür zu sorgen, dass die für die einzelnen Arbeiten vorzusehenden Arbeitsschutzmaßnahmen aufeinander abgestimmt und – falls erforderlich – im Rahmen eines Sicherheits- und Gesundheitsschutzplans zusammengefasst und optimiert werden.
Gravierende Absturzunfälle
Betrachtet man die langjährigen Statistiken zum Unfallgeschehen, so wird schnell klar, dass Abstürze zu den tödlichsten Unfallgefahren in der gewerblichen Wirtschaft und insbesondere der Bauwirtschaft gehören und damit Priorität bei den zu planenden und zu koordinierenden Arbeitsschutzmaßnahmen auf Baustellen haben müssen: Denn, obwohl genügend technische, organisatorische und persönliche Lösungen für Absturzsicherung existieren, ist die Zahl der meldepflichtigen Absturzunfälle, die aufgrund der Schwere der Verletzungen oft bleibende Folgen für Betroffene haben, in den vergangenen Jahren nicht spürbar gesunken. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Motivation der BG BAU, gemeinsam mit einem Expertenteam den BIM-Anwendungsfall Absturzsicherung zu entwickeln. BIM-Modelle enthalten i. d. R. in der Planungsphase alle erforderlichen Informationen für die Identifikation von Absturzgefährdungen während der Ausführung.
Von den Auftraggeber-Informationsanforderungen (EIR) zum BIM-Abwicklungsplan (BEP)
Zunächst muss der Auftraggebende seine projektbezogenen BIM-Anforderungen in den Auftraggeber-Informationsanforderungen (EIR: Bezeichnung nach ISO 19650 für Employer Information Requirements) inhaltlich beschreiben. Hierzu gehört z. B. die Vorgabe zum Einsatz des Anwendungsfalls Absturzsicherung als Zieldefinition. Diese auch als Lastenheft bezeichneten EIR bilden die inhaltliche Grundlage des BIM-Abwicklungsplans (BEP: Bezeichnung nach ISO 19650 für BIM Execution Planning), der die Frage „Was wird wann benötigt“, klärt.
Ein BIM-Abwicklungsplan (BEP) enthält die Summe aller Vorgaben zu allen BIM-bezogenen Inhalten, Strukturen, Prozessen und Rollen. Es handelt sich also um ein Dokument, in dem sämtliche erforderlichen Festlegungen zur Projektdurchführung in der BIM-Arbeitsweise getroffen werden. BIM-Abwicklungspläne werden i. d. R. vom Auftraggebenden veranlasst und meist durch einen beauftragten BIM-Manager oder BIM-Koordinator gesteuert.
BIM-Anwendungsfälle (Use Cases)
Anwendungsfälle haben stets einen bestimmten Nutzen und etablieren eine gemeinsame Sprache. Über die relevanten Projektphasen (Planung, Ausführung, Nutzung, Umbau, Abbruch) werden die Informationsanforderungen an die verschiedenen Beteiligten bestimmt. Anwendungsfälle definieren, wer in welchem Format und in welchem Detaillierungsgrad Informationen zur Verfügung stellt, um ein bestimmtes Ergebnis bzw. einen bestimmten Nutzen zu erreichen.
Fachmodell „Absturzsicherheit“ mit Platzhaltern für Absturzgefahren
Wie eingangs hergeleitet werden die Weichen im Arbeitsschutz eines Bauvorhabens bereits in der Planungsphase gestellt. Folglich erscheint der Einsatz des BIM-Anwendungsfalls Absturzsicherung ab der Leistungsphase 3 möglich und sinnvoll. Hierbei erfolgt eine Überprüfung des digitalen Modells auf mögliche Absturzgefährdungen in Abhängigkeit von den Bauzeiten.
Das Fachmodell stellt Absturzgefahren durch Platzhalter aus einfachen 3D-Symbolen dar, die nach Art und Ausdehnung der Gefährdung unterschieden werden.
Die 3D-Symbole lassen sich im Grundriss und im Koordinationsmodell darstellen.
Von gewerkeübergreifender zu gewerkespezifischer Modellierung
Während die gewerkeübergreifenden Absturzsicherungen von Bauherrin oder Bauherrn bzw. den Planenden (wie z. B. Sicherheits- und Gesundheitsschutzkoordinierende) mitgedacht und mittels Volumenkörper als Ersatz für die einfachen 3D-Elemente im Fachmodell Absturzsicherung dargestellt werden, kommt diese Aufgabe bei den gewerkspezifischen Absturzsicherungsmaßnahmen den ausführenden Unternehmen zu.
Die Modellelemente sind dabei stark idealisierte Volumenkörper, deren Abstände oder Maße nicht exakt der Realität entsprechen müssen. Sie sind nicht als „Aufbauanleitung“ zu verstehen und weisen neben ihrer Geometrie nur sehr wenige numerische Informationen auf. Die Volumenkörper können Planende und Modellierende leicht selbst erstellen. Alternativ kann zukünftig auf Vorlagen der Anbieter von Modellierungssoftware in Form von Bibliotheken, Assistenten usw. zurückgegriffen werden.
Diese manuelle Überprüfung durch eine in Sachen Arbeitsschutz qualifizierte Person lässt sich auch mit einem Rule-Checking-Algorithmus, der das BIM-Modell analysiert und regelbasierte Vorschläge für erforderliche Absturz- und Durchsturzmaßnahmen macht, digital umsetzen.
Rule Checker
Mithilfe von Prüfregeln (Rule Checker) analysiert ein Software-Werkzeug das BIM-Modell auf mögliche Absturzgefahren (z. B. h ≥ 1,00 m, h ≥ 2,00 usw.). Die horizontalen Flächen (z. B. Geschossdecken, Dachfläche) werden in Dreiecke aufgeteilt, wobei alle Kanten, die von Dreiecken geteilt werden, als ungefährlich gelten. Alle übrigen Kanten sind potenzielle Absturzorte, die mittels animierter Prüfkörper – die entweder mit virtuellen Wänden, Seitenschutz, Gerüsten usw. kollidieren (= sicher) oder nicht kollidieren (= unsicher) – geprüft werden. Auch potenzielle Durchsturzstellen wie bspw. Bodenöffnungen oder nicht begehbare Bauteile werden im virtuellen Modell detektiert. Solche Software-Werkzeuge offenbaren fortlaufend Schwachstellen im Gebäudemodell in Abhängigkeit von den Bauzuständen und Planänderungen.
Egal ob nun Schwachstellen im BIM-Modell manuell durch eine Person oder automatisiert durch ein Software-Werkzeug aufgefunden und mittels manueller oder automatisierter Einfügung von Sicherungstypen sicher gemacht wurden, dienen beide Vorgehensweisen der Qualitätssicherung im Arbeitsschutz, liefern die relevanten Informationen zur Planung, Ausschreibung und Vergabe, (teil-)automatisieren die Erstellung von Sicherheits- und Gesundheitsschutzplänen und geben den ausführenden Unternehmen deutliche Hinweise für ihre Gefährdungsbeurteilungen.
Umsetzung in der Praxis
Das Fachmodell wird mit der Leistungsbeschreibung (inklusive der gewerksübergreifender Absturzsicherungsmaßnahmen) und der Terminplanung den ausführenden Unternehmen zur Verfügung gestellt, damit diese ihre gewerkspezifischen Absturzsicherungsmaßnahmen festlegen und rückmelden können. Der für das BIM-Management verantwortliche Planende koordiniert die Absturzsicherungsmaßnahmen. Die BIM-Arbeitsweise mit Einsatz des Anwendungsfalls Absturzsicherung ändert also keine Verantwortlichkeiten im Arbeitsschutz, da die ausführenden Unternehmen nach wie vor ihre projektbezogenen Gefährdungsbeurteilungen mit Festlegung von Schutzmaßnahmen gegen Absturz durchführen. Bauherrinnen und Bauherren bzw. Planende nutzen diese Tools, um relevante Informationen verständlich sowie verfügbar zu machen und dafür zu sorgen, dass die für die einzelnen Arbeiten vorzusehenden Arbeitsschutzmaßnahmen aufeinander abgestimmt und im Rahmen eines Sicherheits- und Gesundheitsschutzplans zusammengefasst und optimiert werden (vgl. Baustellenverordnung). Die ausführenden Unternehmen nutzen die Informationen für ihre Arbeitsschutzbelange, wie u. a. für die Aufgabe zur internen sowie externen Koordination der Arbeiten.
Die im Anwendungsfall Absturzsicherheit der BG BAU mit dem Fachmodell behandelten Maßnahmen richten sich nach den einschlägigen Vorschriften und Regelwerken in Deutschland. Interessierte können entsprechende Sicherungstypen als einfache 3D-Volumenkörper modellieren oder die bald verfügbaren Modellierungssoftware-Vorlagen als parametrische Bauteile in Detaillierungsgrad LOG100 oder LOG300 einsetzen. LOG beschreibt den Level of Geometry (LOG), also messbare Formen und Positionen von Bauteilen. Des Weiteren gibt es noch LOI, Level of Information, also nicht geometrischen Informationen, die in einem Bauteil vorhanden sind, wie z. B. das Material.
Erste kostenfreie Vorlagen sind bereits online verfügbar. Übergangsweise können auch die Absturzsicherungstypen der SUVA (www.suva.ch/bim) verwendet werden, die sich auf die hiesigen Rahmenbedingungen anpassen lassen.
Nutzen des BIM-Anwendungsfalls Absturzsicherung
BIM erlaubt Planenden die detailgetreue digitale Abbildung von Gebäudemodellen mit allen relevanten Informationen über den gesamten Planungsprozess und Lebenszyklus. Damit ermöglicht BIM effizientere Planung, Ausführung und Nutzung von Bauprojekten, aber auch realistische Einschätzung von Kosten und Zeiten. Mit dem Einsatz des Anwendungsfalls Absturzsicherung werden Planung, Ausführung, Nutzung, Umbau und Abbruch von Bauwerken nun auch sicherer.
Der BIM-Anwendungsfall Absturzsicherung zeigt, wie BIM auch für Arbeitsschutzthemen genutzt werden kann. Er erfordert keine technologische Expertise und ist bei gewöhnlichen BIM-Projekten gut einsetzbar. Die Ergebnisse können in 3D und auch herkömmlich mittels gedruckter Pläne genutzt werden.
Grundsätzliche Vorteile der BIM-Methode:
- Bessere Kommunikation
- Besseres Informationsmanagement
- Mehr Planungssicherheit
- Besseres Bauwerksmanagement
- Leichteres Controlling
- Kostensicherheit
- Zentrale Datenverwaltung
- Terminsicherheit
- Frühzeitige Fehleranalyse
- Qualitätssicherheit inkl. Arbeitsschutz
BIM und Arbeitsschutz
Mit dem Einsatz der BIM-Methode lässt sich nicht nur die Einhaltung von Sicherheitsregeln (bspw. Absturzgefährdungen) überprüfen, sondern auch Prävention durch Design (Construction Hazards Prevention through Design – CHPtD) realisieren sowie Grundlagen für Sicherheits- und Gesundheitsschutzpläne produzieren. Weitere Möglichkeiten ergeben sich aus der Nutzung der im BIM-Modell enthaltenen Daten für Schulungsmaßnahmen auf Basis von Virtual Reality u. Ä.
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BauPortal 2|2022
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