Reger Austausch auf dem XXXI. Internationalen Symposium der IVSS Sektion Bauwirtschaft
Eine Welt ohne schwere und tödliche Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten ist das Ziel der Vision Zero. Sie ist besonders für die Bauwirtschaft eine große Herausforderung. Deswegen stand sie im Fokus des XXXI. Symposiums der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS), Sektion Prävention in der Bauwirtschaft. Mitorganisiert wurde die vom 8. bis zum 10. Juni in Berlin stattfindende Konferenz von der BG BAU, die die Präsidentschaft und das Generalsekretariat der Sektion innehat.
Über die IVSS und die Internationale Sektion für Prävention in der Bauwirtschaft
Die IVSS wurde 1927 unter Federführung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) – einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen – gegründet und hat heute mehr als 320 Mitgliedsinstitutionen aus über 160 Ländern. Mit der Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten befassen sich 14 Sektionen der IVSS.
Die internationale Sektion der IVSS für Prävention in der Bauwirtschaft wurde 1968 gegründet. Die Präsidentschaft und das Generalsekretariat liegen bei der BG BAU. Der Zweck der Sektion ist es, Studien und wissenschaftliche Untersuchungen in verschiedenen Ländern zu fördern, den Austausch zwischen Expertinnen bzw. Experten und der Arbeitswelt durch gemeinsame Projekte und Veranstaltungen zu erleichtern und Spezialistinnen und Spezialisten für die Entwicklung von Strategien, Methoden und neuen Umsetzungs- und Analyseinstrumenten zu gewinnen.
Unter dem Motto „Wie erreichen wir Vision Zero in der Bauwirtschaft?“ tauschten sich mehr als 170 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 23 Ländern über wirksame Maßnahmen zur Reduzierung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in der Bauwirtschaft aus. Ziel der Veranstaltung war es, international aus Erfahrungen zu lernen, um die Bauwirtschaft und die baunahen Dienstleistungen weltweit sicherer zu machen.
Warum ist Vision Zero für die Bauwirtschaft besonders wichtig?
Trotz der unbestrittenen Fortschritte, die in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausfallen können, sind die Unfallprävention und die Gesundheitsförderung für die Bauwirtschaft weiterhin die größte Herausforderung – vor allem durch die weltweite Ausweitung und zunehmende Vernetzung der Bautätigkeiten. Die Baubranche weist angesichts ihrer spezifischen Faktoren – wie nicht stationäre Arbeitsplätze – traditionell hohe Unfallquoten auf, auch wenn in den vergangenen Jahren deutliche Verbesserungen erzielt werden konnten. So verzeichnete die europäische Statistik-Agentur Eurostat beispielsweise im Jahr 2019 immer noch die höchste Zahl sowohl nicht tödlicher als auch tödlicher Arbeitsunfälle in der EU-27 im Baugewerbe.
Für die Bauwirtschaft ist die Vision Zero eine Chance, aber auch eine Herausforderung. In Deutschland beispielsweise ist das Arbeitsunfallrisiko in der Baubranche zwar gesunken, zugleich ist das Risiko aber noch mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt aller Branchen. So führen zum Beispiel Absturzunfälle immer wieder zu schweren oder tödlichen Verletzungen. Weitere Unfallschwerpunkte sind Unfälle durch herabfallende oder kippende Teile sowie Maschinenunfälle. Die häufigsten Berufskrankheiten sind Lärmschwerhörigkeit, Hautkrebs durch UV-Strahlung und Lungenkrebs durch Asbest.
Vision Zero
Das ursprünglich aus der Verkehrspolitik stammende Konzept der Vision Zero beruht auf der Überzeugung, dass alle Unfälle, Krankheiten und Schadensfälle bei der Arbeit vermeidbar sind. Zur Verwirklichung von Vision Zero gibt es „7 Goldene Regeln“, durch deren Umsetzung eine Präventionskultur am Arbeitsplatz geschaffen oder unterstützt wird.
„7 Goldene Regeln“ von Vision Zero
1. Leben Sie Führung – zeigen Sie Flagge!
2. Gefahr erkannt – Gefahr gebannt!
3. Ziele definieren – Programm aufstellen!
4. Gut organisiert – mit System!
5. Maschinen, Technik, Anlagen – sicher und gesund!
6. Wissen schafft Sicherheit!
7. In Menschen investieren – motivieren durch Beteiligung!
Ziel des Symposiums
Mit der Information über Best-Practice-Beispiele für vorbildlichen Arbeitsschutz aus der ganzen Welt bietet die Sektion Unternehmen und Organisationen in der Bauwirtschaft umsetzbare Lösungen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz auf Baustellen zu verbessern. Diese Beispiele umfassen neben den „klassischen“ Themen wie der Prävention von Absturzunfällen oder dem Umgang mit Schadstoffen auch Themen wie die Digitalisierung im Arbeitsschutz, etwa im Hinblick auf den Einsatz von Robotern oder Drohnen.
In seiner Eröffnungsrede formulierte Prof. Karl-Heinz Noetel, Präsident der IVSS Sektion Bauwirtschaft, das Ziel der Veranstaltung: „Wir wollen Erfahrungen, neue Ansätze und Innovationen, insbesondere im digitalen Bereich, diskutieren und international bekannt machen. So wollen wir dazu beitragen, die Zahl der Unfälle und Berufskrankheiten auf Baustellen weltweit zu reduzieren und dem Ziel der Vision Zero näherzukommen.“
Michael Kirsch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der BG BAU, betonte in seinem Grußwort, dass Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten immer Ursachen hätten: „Mit einer wirksamen Präventionskultur können wir diese Ursachen beseitigen und viel Leid verhindern. Die Vision-Zero-Strategie IVSS ist ein Ansatz, mit dem Unternehmen Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in der Praxis umsetzen können.
Breakout Sessions
Ein praxisnaher Austausch fand in den vier Breakout Sessions zu den Themen „Unfallprävention“, „Schulung und Bewusstseinsbildung“, „Gefahrstoffe und Gesundheit bei der Arbeit“ sowie „Innovation und neue Technologien“ statt, über die nachfolgend beispielhaft berichtet wird.
Breakout Session „Unfallprävention“
In dieser Session wurden die Möglichkeiten der Prävention von Unfällen in Theorie und Praxis vorgestellt. Dass schwere Unfälle vermieden werden können, wenn auf Frühindikatoren und relevante kritische Risiken fokussiert wird, zeigte der Vortrag von Ignacio Andrade Barra (CChC, Chile). Um die Faktoren, die zum Auftreten von Arbeitsunfällen auf Baustellen in Lusaka beitragen, ging es im Vortrag von Chansa J. Kapema aus Sambia.
Prof. Dr. Marco Einhaus (BG BAU) stellte in seinem Vortrag vor, mit welchen Gefahren das Arbeiten auf Leitern verbunden ist und welche Alternativen es dafür gibt. „Mehr als Fahren: Nutzfahrzeuge als Arbeitsplatz und Arbeitsmittel“ war Thema des Vortrags von Dr. Nadja Schilling (IVSS Sektion für Prävention im Transportwesen) und Martin Küppers von der BG Verkehr.
Wie Unfallprävention in der Praxis funktioniert, berichtete André Büschkes (Dachdeckerunternehmen Hans-Dieter Büschkes) in seinem Vortrag „Vision Zero – 7 Jahre unfallfrei!“.
Breakout Session „Schulung und Bewusstseinsbildung“
Wie Unternehmer und Beschäftigte für sicheres und gesundes Handeln sensibilisiert werden können, stellten die Vortragenden in dieser Session vor. Marie Diallo (Caisse de Sécurité Sociale, Senegal) berichtete über die Integration von Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit in die technische und berufliche Bildung im Senegal. Bimal Kanti Sahu (Indo-German Focal Point, Indien) referierte über die praktische Umsetzung von Vision Zero im Bausektor in Indien.
Welche Probleme und Lösungen es beim Sicherheitsmanagement für Auftragnehmer gibt, fasste Dr. Mark Füllemann (Practice & Experience GmbH, Schweiz) in seinem Vortrag zusammen. Philippe Villain vom französischen Bauunternehmen DEMATHIEU BARD sprach über seine Erfahrungen der Mitarbeitermotivation. Aus der betrieblichen Praxis berichtete auch Jens-Uwe Lutz (Dietmar Lutz Malermeister) in seinem Vortrag zu „Unternehmensführung und Mitarbeiterbindung“.
Breakout Session „Innovation und neue Technologien“
Die Session stellte nicht nur theoretisch die Chancen vor, die die Digitalisierung für die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit bietet, sondern veranschaulichte auch die Umsetzung in der Praxis. So stellte Bernd Merz (BG BAU) die Digitalisierung als die Möglichkeit vor, den Rückgang der Arbeitsunfall- und Berufskrankheiten-Zahlen wirksam zu unterstützen. Marcos Hill (intecplan Essen) präsentierte den BIM-Anwendungsfall Absturzsicherung, der in Zusammenarbeit mit der BG BAU entwickelt wurde. Wie der Einsatz von Robotern zur Verbesserung von Gesundheit und Sicherheit in der Bauwirtschaft beiträgt, war das Thema des Vortrags von Takashi Kawata (SHIMIZU Corporation, Japan). Cristian Amaya Gomez vom Berliner Start-up ConBotics stellte mit dem Maler-Roboter für die Bauindustrie eine weitere Möglichkeit vor. Vor der Diskussionsrunde zu diesem Thema präsentierte Stéphanie Bigeon-Bienvenu (OPPBTP, Frankreich) digitale Präventionslösungen zur Unterstützung von Bauunternehmen in Frankreich und anderen Ländern.
Breakout Session „Gefahrstoffe und Gesundheit bei der Arbeit“
In dieser Session wurde beispielsweise deutlich, dass Asbest nicht nur in Deutschland ein wichtiges Thema ist. In Frankreich unterstützt z. B. die OPPBTP mit der Asbestkarte und den „Asbest good practices“ Bauunternehmen, die mit asbesthaltigen Materialien und Produkten arbeiten. Wie diese Angebote genau funktionieren, zeigte der Vortrag von Mickaël Veillet.
Dr. Klaus Kersting von der BG BAU und Sabrina Schatzinger von der österreichischen AUVA zeigten, wie die Schulungen im Umgang mit Gefahrstoffen als Maßnahme für erfolgreiche Prävention in Deutschland und Österreich umgesetzt werden.
Mit dem Thema „Vorbeugung von Hitzestress im Baugewerbe“ beschäftigte sich Dr. Rick Rinehart (CPWR, USA) in seinem Vortrag.
Start-up Pitch Battle
Unter dem Motto „Wie lassen sich Sicherheit und Gesundheitsschutz auf Baustellen durch digitale Innovationen verbessern?“ präsentierten sieben internationale Start-ups ihre Lösungen für mehr Sicherheit. So bietet z. B. Cikaba aus Frankreich eine schlüsselfertige Lösung für digitale QHSE-Schulungen und -Tests, die schnell an die jeweilige Zielgruppe anpassbar ist.
Insite aus Israel präsentierte ein Bildverarbeitungssystem, das Kranführer auf Risiken in ihrer Arbeitsumgebung aufmerksam macht. Somit wird der Kranbetrieb sicherer und es können die Kosten gesenkt werden. Das chilenische Unternehmen gauss control setzt auf ein digitales Modell, das verschiedene Datenquellen nutzt, um Unfallrisiken vorherzusagen und einen Aktionsplan zu erstellen. Die meisten Start-ups stellten ihr Unternehmen bzw. ihre Idee online vor. Direkt vor Ort in Berlin war nur Monja Meier vom deutschen Start-up EASI Control. Das Unternehmen hat eine digitale Arbeitsschutzplattform entwickelt, die alle GDA-Orgacheck-Punkte sowie alle AMS BAU-Schritte abwickelt. Nach Abschluss der Präsentationen konnte das Publikum online zur überzeugendsten der vorgestellten Ideen abstimmen. Die meisten Teilnehmenden entschieden sich für EASI Control.
Moderiert wurden die Pitches von Stéphanie Bigeon-Bienvenu.
Baustellen-Besichtigungen
Am dritten Konferenztag gab es nach der offiziellen Verabschiedung für eine begrenzte Anzahl von Teilnehmenden die Möglichkeit, interessante Bauprojekte in Berlin zu besichtigen.
Schaltanlage in Steglitz
Die erste Exkursion führte in den Süden von Berlin, nach Steglitz. Dort modernisiert das Unternehmen SPIE – im Konsortium gemeinsam mit ABB für Stromnetz Berlin GmbH, die für das Berliner Verteilungsnetz verantwortlich ist – die Schaltanlage sowie die dazugehörige Schutz- und Leittechnik im Netzknotenpunkt Steglitz. Der Fokus liegt auf der Modernisierung der luftisolierten Schaltanlagenfelder. Die Arbeiten haben im Dezember 2019 begonnen und sollen bis Dezember 2026 fertiggestellt werden.
Hochhäuser am Alexanderplatz
Die zweite Exkursion, die zeitgleich stattfand, ging zum Alexanderplatz. Rund um den Alexanderplatz entstehen vier Hochhaus-Komplexe.
Zunächst schaute sich die Gruppe den Stand der Tiefbauarbeiten für das neue Covivio-Hochhaus neben dem Park Inn an. Der neue Gebäudekomplex wird aus einem ca. 36 m hohen Block sowie einem Hochhausturm an der Alexanderstraße bestehen. Vorgesehen ist eine gemischte Nutzung mit Büros, Wohnungen, Einzelhandel, Gastronomie und einer Kindertagesstätte. Beim Rundgang tauschten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit den Bauleitern zum Stand der Spezialtiefbauarbeiten und natürlich zum Arbeitsschutz aus.
Danach wurde das Bauprojekt „Mynd“ (My Mind) besichtigt. Der Investor Signa möchte das bestehende Kaufhaus „Galeria“ erweitern und direkt an das alte Gebäude ein neues Büro-Hochhaus errichten. Der Teilabriss des Bestandsgebäudes (etwa 4.000 m2) begann im Oktober 2021. Die Bauarbeiten werden dabei im laufenden Kaufhaus-Betrieb ausgeführt, wovon sich auch die Exkursionsgruppe überzeugen konnte. Die Teilnehmenden konnten sich nicht nur die Abbrucharbeiten mittels einer Seilsäge ansehen, sondern hatten auf der obersten Ebene auch einen guten Ausblick auf viele weitere Bauprojekte rund um den Alexanderplatz.
Bis 2025 soll das Projekt abgeschlossen sein.
Fazit und Ausblick
Sektionspräsident Prof. Noetel zog folgendes Fazit zur Veranstaltung: „Rund um den Globus zeigen Unternehmen, dass sie über viele gute Lösungen verfügen. Ihnen ist es gelungen, Verletzungs- und Erkrankungsrisiken durch wirksame Maßnahmen oder den Einsatz neuer Technologien deutlich zu verringern. Roboter und Drohnen übernehmen zum Beispiel inzwischen gefährliche Arbeiten. Als entscheidender Faktor hat sich jedoch immer wieder eine Unternehmenskultur erwiesen, die sicheres und gesundes Arbeiten fordert und fördert.“
Um die Inhalte und Ziele des Symposiums festzuhalten und nachhaltig umzusetzen, wurde eine „Declaration of Berlin“ vereinbart, die zu einem späteren Zeitpunkt auf der Website veröffentlicht wird.
Autoren
Ausgabe
BauPortal 3|2022
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