Digitalisierung
Ein Appell für die Digitalisierung des Arbeitsschutzes
Der Arbeitsschutz muss an seinem Optimismus arbeiten. Statt digitale Konzepte – aus welchen Gründen auch immer – abzulehnen, gilt es, die immensen Chancen zu erkennen, eigene Kompetenzen zu entwickeln und die Regelwerke fit zu machen. Beispiele aus den USA und anderen Ländern zeigen, dass es geht.
Er kann in Bruchteilen von Sekunden brauchbare Reden ausarbeiten und Geschichten erzählen: Der von der US-Firma OpenAI entwickelte Text-Roboter ChatGPT ist aktuell in aller Munde. Und sofort waren sie da – die vielen skeptischen, kritischen und warnenden Experten, die auf alle denkbaren Risiken aus der Sprachsoftware mit künstlicher Intelligenz (KI) hinweisen. Es sei kein Durchbruch in der KI-Forschung, die Server der US-Firma stehen in den USA und generierende, vortrainierte Transformer eignen sich nicht für Laien. Dem kann man nur entgegnen, das Wissen und Fortschritt in Sachen Digitalisierung darüber entscheiden, ob wir uns den heutigen Lebensstandard in wenigen Jahren noch leisten können. Schon heute ist der Grad der Abhängigkeit von Technologien insbesondere aus China und den USA besorgniserregend. Umso erfreulicher ist die Nachricht, dass das Sprachmodul Luminous des deutschen Start-ups Aleph-Alpha zumindest gleichwertig performen soll wie sein Gegenstück aus den USA. Doch mangelt es in Deutschland ein wenig an Begeisterung für die Digitalisierung, Start-up-Kultur und Risikokapital, wodurch KI-Höchstleistungen einfach seltener sind als in den USA oder Asien.
Beim Arbeitsschutz mit der Zeit gehen …
Deutschland belegt im europäischen Vergleich bei den nicht tödlichen Arbeitsunfällen je 100.000 Erwerbstätige nur noch Platz 22 von 28 (Quelle: EUROSTAT 2018). Die früheren Erfolge im Arbeitsschutz begründeten sich überwiegend in verbesserter Technik, Qualifikation und Organisation, wobei jede der drei Verbesserungen zeitlich versetzt zu deutlichen Rückgängen bei den Unfallzahlen führte. Sicherlich kann und muss man die drei Stellschrauben noch einmal nachjustieren. Aber wäre es nicht sehr viel einfacher, billiger, effektiver etc., wenn man ein „Next Big Thing“ im Arbeitsschutz hätte? Die gute Nachricht ist: Das nächste große Ding ist da.
… und über den Bauzaun schauen
In seinem Beitrag für das US-Magazin Forbes aus dem Jahr 2020 fasst der Autor Louis Columbus die Vorteile der KI-Nutzung auf Baustellen trefflich zusammen: „KI und maschinelles Lernen reduzieren Baustellenunfälle, Diebstahl, Vandalismus und gefährliche Betriebsbedingungen, indem sie rund um die Uhr Video-Feeds in Echtzeit analysieren und neue prädiktive Erkenntnisse und kontextbezogene Informationen zu Bedrohungen gewinnen.“
KI-gestützte Kameraüberwachung
In den USA wie auch in asiatischen Ländern werden vereinzelt KI-gestützte Kamerasysteme auf Baustellen entwickelt und eingesetzt, die Fahrzeugbewegungen, Absturzsicherungen, Gerüste, Absperrungen, Personenaufenthalte in Gefahrenbereichen von Fahrzeugen und Lasten, Benutzen von persönlicher Schutzausrüstung etc. in Echtzeit mit Kameras überwachen und analysieren, im Ernstfall entsprechende Alarmmeldungen auslösen und auch vorausschauende Gefährdungsbeurteilungen erstellen. Dies wird möglich durch die Kombination der Kameraüberwachungssysteme mit KI, Mustererkennung, maschinellem Lernen und weiteren Technologien. Was dann noch fehlt, ist die Konfiguration von Prüfregeln mit Schwellenwerten, die sich an externen Vorgaben (Gesetze, Verordnungen, Vorschriften) und internen Vorgaben (Bauherr, Betriebsanweisungen) ausrichten.
Digitale Zwillinge und BIM
Neben der 24/7-Überwachung des Arbeitsschutzes auf Baustellen können KI-gestützte Prüfungen von Bauvorhaben im digitalen Zwilling entscheidende Beiträge zur Senkung der Arbeitsunfallzahlen liefern. Mithilfe der BIM-Methode (BIM für Building Information Modelling) können Bauabläufe bereits in frühen Planungsphasen automatisiert 24/7 mit KI-Unterstützung auf mögliche Kollisionen anhand von Prüfregeln (Sicherheitsregeln mit Schwellenwerten) geprüft und damit u. a. die Ziele der Baustellenverordnung mit ihrem Koordinierungsgedanken erreicht werden. Ein KI-basiertes System mit Zugriff auf möglichst viele Pläne bereits gebauter Gebäude ist in der Lage, Entwurfsalternativen auf der Grundlage der Erkenntnisse aus Bestandsbauten zu entwickeln. Architekten und Fachplaner können Designziele zusammen mit Parametern wie räumlichen Anforderungen, Nachhaltigkeit, Kosten, Wartung, Unterhalt, Arbeitsschutz in Ausführungs- und Nutzungsphasen usw. definieren und im System optimieren. Mithilfe künstlicher Intelligenz prüft die Software verschiedene Varianten und generiert Designvarianten, die vorher festgelegten Anforderungen entsprechen. KI-basierte Tools vergleichen z. B. die Daten des digitalen Zwillings mit der tatsächlichen Bauausführung und erkennen in Echtzeit bspw. ein gemäß Bauvertrag falsches oder falsch erstelltes Gerüst ebenso wie Maßabweichungen bei einem Gebäude. So liefert bspw. der vierbeinige, hundeartige Laufroboter von Boston Dynamics aus Waltham (Massachusetts, USA) autonom Bilder und Messungen als Input für KI-Systeme. Dieser „Hund“ kann auch nachts, wenn die Baustelle menschenleer ist, herumlaufen und seine Arbeit machen, womit die Herausforderung aus dem Schutz personenbezogener Daten entfällt.
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Laut einer Studie von Dodge Data & Analytics ergeben sich durch die BIM-Einführung in den USA folgende Vorteile für Auftragnehmer: 25 % Verbesserung der Arbeitsproduktivität, 25 % weniger Arbeitskosten, 5 % Reduzierung der Bauendkosten und 5 % kürzere Ausführungszeiträume. Trotz dieser Vorteile sowie starker Ermutigung durch Regierungsrichtlinien und Bemühungen der Softwareindustrie verläuft die Einführung der BIM-Methode jedoch weltweit bislang eher schleppend.
In den USA, einem Land mit einem riesigen Markt für die Bauwirtschaft, wird es nun durch das kürzlich verabschiedete US-Infrastrukturgesetz rasch zu einer verstärkten BIM-Verwendung kommen, da dieses Gesetz beachtliche Investitionen in den „Einsatz fortschrittlicher digitaler Baumanagementsysteme“ vorsieht. Warum dieser Hinweis auf die USA und den dortigen BIM- Einsatz? In den USA wird sich die BIM-Methode mit den dortigen Standards und der dort eingesetzten Software nun rasch etablieren, während Europa noch um Definitionen, Normen und Schnittstellen ringt. Im digitalen Zeitalter geht es aber nicht nur allein um die Entwicklung der besseren Technologie, sondern um die Skalierbarkeit des Geschäftsmodells rund um die Technologie, also schnelles Wachstum bis zur Markbeherrschung durch Erfüllen von Kundenwünschen. Letzteres wird in den USA nun maßgeblich durch die im Infrastrukturgesetz vorgesehenen Investitionen in die Technologie in Verbindung mit einem nationalen BIM-Programm bestimmt, während andere Regionen der Welt die Steuerung von Kundenwünschen durch gesetzgeberische Vorgaben bevorzugen.
Plattformlösung für die Bauwirtschaft
In den letzten Jahren starteten einige innovative und technologiegetriebene Unternehmen aus dem Silicon Valley mit der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle für die Bauwirtschaft. Beispiel hierfür ist ein 2015 gegründetes US-amerikanisches Unternehmen, das mit dem Ziel antrat, mithilfe technologiegetriebener „Lean Production“ die Baubranche in den USA zu revolutionieren. Verbunden war dieses Angebot mit einem skalierbaren Geschäftsmodell, das in diesem Fall auf einer Plattformlösung à la Amazon basierte. Die hohe Risikobereitschaft in Verbindung mit immensen Summen an verfügbarem Kapital machen es Investoren in den USA und Asien möglich, massiv in digitale Geschäftsmodelle und Technologien zu investieren, global zu skalieren und Branchen zu verändern. Aus Sicht des Arbeitsschutzes sind Plattformanbieter – sofern diese verpflichtende Arbeitsschutzstandards vorgeben – zunächst keine unlösbare Herausforderung, wobei Überwachungs- und Beratungsansätze entsprechend angepasst werden müssen.
Auf dem Weg zum zeitgemäßen Arbeitsschutz in Deutschland
Die in Asien und den USA vorhandene Einstellung, wonach KI mehr nutzt als schadet, führt zur intensiven Verarbeitung von Informationen, die sich auf identifizierte oder identifizierbare Personen beziehen. Und genau an diesem Punkt wird es schwierig für uns Europäer, da wir dem Schutz persönlicher Daten einen hohen Stellenwert beimessen. Selbst eine Echtzeit-Verpixelung von Personen und Firmenlogos bietet keine 100%ige Sicherheit vor Datenmissbrauch, da KI-Algorithmen immer im Datenmeer nach Verbindungen suchen und diese finden können. So lässt sich beispielsweise eine völlig verpixelte Person relativ einfach über das Smartphone oder die Smartwatch tracken. Nun gibt es aber genau für diese Situation eine seit fast zwei Jahrzehnten bewährte Lösung, und zwar ein Gesetz im Fall von Toll Collect. Wäre dann nur noch verdeckte Datennutzung durch Technologieanbieter in den Griff zu kriegen, was wiederum für deutsche bzw. europäische Eigenentwicklungen spricht. Kurz gesagt: Die KI-Nutzung zur Echtzeit-Überwachung des Arbeitsschutzes auf Baustellen wäre in Deutschland datenschutzkonform und technologisch in kürzester Zeit machbar. Bei der erforderlichen Software handelt es sich überwiegend um „Regalware“.
Im Fall des Einsatzes der BIM-Methode fehlt es bislang an der Einsicht der Kunden in deren Sinnhaftigkeit. Warum sollten Bauherren die zusätzlichen Kosten auf sich nehmen, wenn es sich bei Kosten und Bauzeiten scheinbar nicht ausreichend auszahlt? Hier fehlt es an Subventionen (vgl. USA), der Vorreiterrolle bedeutender bzw. marktmächtiger Auftraggeber (bspw. öffentliche Bauherren) oder Belohnungen, wie etwa dem kosten- und zeitsparenden digitalen Bauantrag, der die automatisierte 24/7-Prüfung in wenigen Stunden bis Tagen ermöglicht. Automatisierte Prüfungen setzen wiederum maschinenlesbare bzw. maschineninterpretierbare Regelwerke (Gesetze, Verordnungen, Vorschriften, Regeln) voraus, die es bislang allerdings nicht bzw. nur sehr selten gibt. Diese digital nutzbaren Regelwerke hätten darüber hinaus den Charme der einfachen Lesbarkeit und der besseren Verständlichkeit für alle Beteiligten, was sicherlich förderlich für Einsicht in den Arbeitsschutz wäre.
Ausblick
Lösungen bzw. Lösungsansätze sind also vorhanden. Folglich blieben noch die menschlichen Vorbehalte gegenüber KI-Technologien. Laut aktuellen Studien steht die Bevölkerung den KI-Anwendungen zunehmend positiv gegenüber, während so manche Expertenkreise noch Vorbehalte gegen KI-fundierte Entscheidungen öffentlichkeitswirksam veröffentlichen, die interessanterweise auch auf menschliche Entscheidungsträger zutreffen. Natürlich haben die Vorteile der komplexen Algorithmen auch ihren Preis, wie etwa die Verschiebung von Verantwortung für Handlungen, ethischen Problemen bei Unfällen, Cyberattacken u. a., die gesellschaftlicher Diskussionen bedürfen.
Fest steht jedoch, dass sich die Entwicklungen nicht aufhalten lassen, enorme Chancen für den Wirtschaftsstandort, den Sozialstaat und den Arbeitsschutz bieten. Macht man nicht begeistert mit, wird man garantiert gemacht und dies mit negativen Folgen für unsere Gesellschaft, inklusive des Arbeitsschutzes.
Autor
Ausgabe
BauPortal 2|2023
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