Studie zu Muskel- und Skelett-Erkrankungen (MSE)
Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) hat eine Studie durchgeführt, in der bereits vorliegende Daten über MSE aus den wichtigsten EU-Erhebungen und Verwaltungsdaten zusammengestellt und analysiert wurden. Diese Daten werden um Daten aus nationalen Quellen ergänzt und vervollständigt. Nachfolgend eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse.
Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) sind nach wie vor die häufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in der Europäischen Union (EU). Von MSE sind Beschäftigte in allen Wirtschaftszweigen und Berufen betroffen. Neben den Auswirkungen auf die Belegschaft selbst sind sie auch mit hohen Kosten für Unternehmen und die Gesellschaft verbunden. Zur Unterstützung von politischen Entscheiderinnen und Entscheidern, Forschenden und Arbeitsschutzfachleuten auf EU- und einzelstaatlicher Ebene hat die EU-OSHA diese Studie durchgeführt.
Muskel-Skelett-Erkrankungen
Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) sind Beeinträchtigungen und Schädigungen von Körperstrukturen wie Muskeln, Gelenken, Sehnen, Bändern, Nerven, Knorpeln und Knochen. Wenn MSE hauptsächlich durch Arbeit und die Auswirkungen des unmittelbaren Arbeitsumfelds verursacht oder verschlimmert werden, werden sie als arbeitsbedingte MSE bezeichnet.
Politischer Kontext
In den gemeinschaftlichen Strategien der EU gilt die Prävention von MSE seit 2002 als Schwerpunktbereich zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Beschäftigten. Die Prävention von MSE und die Förderung der Gesundheit des Stütz- und Bewegungsapparats von Arbeitnehmenden von Anfang an sind für einen längeren Verbleib im Arbeitsleben entscheidend und dienen der Verbesserung der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie
MSE – die häufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren
Schätzungsweise drei von fünf Beschäftigten in den EU-Mitgliedsstaaten berichten von Muskel-Skelett-bedingten Beschwerden und -Erkrankungen. Die häufigsten, von Arbeitnehmenden angegebenen Arten von Beschwerden und Erkrankungen sind Rückenschmerzen und Muskelschmerzen in den oberen Gliedmaßen (Hand, Arm, Schulter). Von allen Beschäftigten in der EU mit einem arbeitsbedingten Gesundheitsproblem nennen 60 % MSE als das schwerwiegendste Problem. Jede fünfte Person in der EU litt im letzten Jahr an einer chronischen Erkrankung des Rückens oder Nackens. Der Anteil von Arbeitnehmenden in der EU, die von Muskel-Skelett-bedingten Beschwerden und -Erkrankungen berichten, ging von 2010 bis 2015 aber auch leicht zurück.
Die Prävalenzraten von MSE sind bei Arbeitnehmerinnen höher als bei Arbeitnehmern. Die Wahrscheinlichkeit, an MSE zu erkranken, nimmt mit dem Alter deutlich zu.
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von MSE ist je nach Wirtschaftszweig, Beruf und soziodemografischen Faktoren unterschiedlich
Die Anteile der Beschäftigten, die von Beschwerden in Verbindung mit dem Muskel-Skelett-System berichten, unterscheiden sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich. Ebenso große Unterschiede weist die Prävalenz von MSE zwischen den Wirtschaftszweigen auf. MSE werden am häufigsten von Arbeitnehmenden genannt, die in den Wirtschaftszweigen Baugewerbe, Wasserversorgung sowie Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei tätig sind. Auch bei Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen ist die Prävalenz von MSE überdurchschnittlich hoch. Am seltensten berichteten Beschäftigte aus der Finanz- und Versicherungsbranche, aus dem Bereich freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen sowie aus Pädagogik und aus der Kultur- und Freizeitbranche von MSE. Die Prävalenz von MSE unterscheidet sich erheblich auch im Beruf der Beschäftigten. 2015 gaben rund 69 % der Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft und Fischerei an, an Beschwerden bzw. Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zu leiden, während dies bei den akademischen Berufen auf 52 % der Beschäftigten zutraf.
Exposition gegenüber Risikofaktoren für Muskel-Skelett-Erkrankungen
Hier wurden physische, organisatorische, psychosoziale und soziodemografische Risikofaktoren anhand EU-weit verfügbarer Datenquellen ausführlich analysiert. Folgende physische Risikofaktoren stehen mit MSE in Verbindung: ungünstige Arbeitshaltungen und das Arbeiten in Körperzwangshaltungen, schwere körperliche Arbeit, schweres Heben und Tragen, repetitive Arbeit, Vibration durch handgeführte Werkzeuge und Maschinen und Tätigkeiten bei niedrigen Temperaturen. Folgende organisatorische und psychosoziale Risikofaktoren beeinflussen darüber hinaus MSE: Angstzustände, allgemeine Erschöpfung, Schlafprobleme, stark beeinträchtigtes psychisches Wohlbefinden, aber auch die Tatsache, am Arbeitsplatz Beleidigungen ausgesetzt zu sein.
Unfälle in Verbindung mit Muskel-Skelett-Erkrankungen
Mehrere Arten von Verletzungen können als akute MSE interpretiert werden, etwa Verrenkungen, Zerrungen und Verstauchungen sowie Knochenfrakturen. Derartige Unfälle waren für 38 % aller schweren Arbeitsunfälle ursächlich. So stellen insbesondere Verrenkungen, Zerrungen und Verstauchungen die zweithäufigste Gruppe arbeitsbedingter Verletzungen mit 27 % dar, der Anteil von Knochenfrakturen ist mit 11 % geringer.
Muskel-Skelett-Erkrankungen als häufigste anerkannte Berufskrankheiten
Die auf nationaler Ebene erhobenen Daten zeigen, dass MSE in Frankreich, Italien und Spanien die häufigsten anerkannten Berufskrankheiten sind. Allerdings weisen die nationalen Entschädigungs- und Meldesysteme zur Erfassung von Berufskrankheiten erhebliche institutionelle Unterschiede auf. Die Listen anerkannter Berufskrankheiten und die Anerkennungsverfahren sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich.
Auswirkungen von Muskel-Skelett-Erkrankungen
Muskel-Skelett-Beschwerden und -Erkrankungen beeinträchtigen den allgemeinen Gesundheitszustand vieler Beschäftigter und haben wirtschaftliche Auswirkungen auf die Unternehmen und verursachen soziale Kosten für die europäischen Länder.
Indikatoren, anhand derer die mit MSE verbundenen Kosten und Belastungen beleuchtet werden, sind Fehlzeiten der Beschäftigten sowie die daraus resultierenden Produktionsausfälle und Produktivitätseinbußen für Unternehmen, kurz DALYs (disability-adjusted life years).
Insgesamt 15 % der durch arbeitsbedingte Krankheit und Erwerbsunfähigkeit verlorenen Jahre gehen auf das Konto von MSE. In den EU-Mitgliedstaaten machen die durch MSE bedingten Fehlzeiten einen hohen Anteil der Ausfalltage aus.
2015 gab über die Hälfte (53 %) der Beschäftigten mit MSE an, im letzten Jahr ausgefallen zu sein, dies ist deutlich mehr als der Anteil der Beschäftigten ohne Muskel-Skelett-Probleme (32 %). Bei Arbeitnehmenden mit MSE ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie ausfallen, sondern, dass sie dann auch für eine längere Zeit ausfallen. So geben beispielsweise 26 % der Beschäftigten mit Muskel-Skelett-Problemen an, im letzten Jahr mehr als acht Tage lang ausgefallen zu sein.
Auf Ebene einzelner Mitgliedstaaten wurden Studien zusammengetragen, die die Auswirkungen von MSE in wirtschaftlicher Hinsicht (Produktivitätseinbußen und höhere Sozialaufwendungen) aufzeigen. In Deutschland beispielsweise waren Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie Erkrankungen des Bindegewebes im Jahr 2016 ursächlich für Produktionsausfälle (Produktionsausfallkosten auf Basis der Arbeitskosten) in Höhe von 17,2 Mrd. EUR und für einen Ausfall an Bruttowertschöpfung (Verlust an Arbeitsproduktivität) in Höhe von 30,4 Mrd. EUR. Dies entspricht 0,5 % bzw. 1,0 % des Bruttoinlandsprodukts Deutschlands.
Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen
Die Europäische Unternehmenserhebung über neue und aufkommende Risiken (ESENER) gibt einen Einblick in die von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern derzeit getroffenen Maßnahmen zur Vorbeugung arbeitsbedingter MSE: Die meisten Beschäftigten sind in Betrieben tätig, in denen eine oder mehrere Präventionsmaßnahmen ergriffen wurden, z. B. durch die Bereitstellung ergonomischer Arbeitsmittel, die Förderung regelmäßiger Pausen für Beschäftigte, die in Körperzwangshaltungen arbeiten, und Arbeitsplatzrotation, um die Belastungen durch repetitive Tätigkeiten zu verringern. Diese Maßnahmen werden von Betrieben aller Größen und Wirtschaftszweige angeboten. Allerdings steigt die Verfügbarkeit von Präventionsmaßnahmen mit der Betriebsgröße. Beschäftigte in Ländern und Wirtschaftszweigen, in denen mehr Präventionsmaßnahmen angewendet werden, berichten eher seltener von muskel- bzw. skelettbedingten Beschwerden. Der Anteil der Belegschaft mit Rückenschmerzen sinkt von 51 % (bei Beschäftigten in Ländern und Wirtschaftszweigen, in denen im Durchschnitt eine bis drei Präventionsmaßnahmen vorhanden sind) auf 31 % (bei Beschäftigten in Ländern und Wirtschaftszweigen, in denen es im Durchschnitt fünf oder sechs vorbeugende Maßnahmen gibt). Bei der Prävalenz von MSE der unteren Extremitäten (Beine, Fuß, Knie) ist eine vergleichbare Entwicklung zu verzeichnen.
Erhebliche Unterschiede gibt es bei den EU-Mitgliedsstaaten hinsichtlich des Anteils der Betriebe, die Richtlinien zur Förderung von Beschäftigten eingeführt haben, die nach einer längeren krankheitsbedingten Abwesenheit von der Arbeit an den Arbeitsplatz zurückkehren (Betriebliches Eingliederungsmanagement). Große Anteile der Beschäftigten im Vereinigten Königreich (97 %), Schweden (95 %), Finnland (93 %) und den Niederlanden (92 %) sind in Unternehmen tätig, in denen Beschäftigte, die lange Zeit krankheitsbedingt ausfielen, bei der Wiedereingliederung ins Erwerbsleben unterstützt werden. In Litauen (19 %) und Estland (27 %) liegen diese Anteile deutlich unter dem Durchschnitt der EU (73%).
Kernbotschaften
→ Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in der EU leidet unter Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems.
→ Entwicklungen und Veränderungen in der Arbeitswelt – Alterung der Bevölkerung und der Erwerbsbevölkerung, zunehmende Beschäftigung im Dienstleistungssektor, neue Geschäftsmodelle, Beschäftigungsformen, neue Formen der Arbeitsorganisation, Digitalisierung, sitzende Tätigkeiten – müssen bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen berücksichtigt und beurteilt werden, um Muskel-Skelett-Erkrankungen reduzieren zu können.
→ Die Prävention von MSE auf betrieblicher Ebene muss durch Veränderungen/Anstrengungen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene (regulatorische Gesichtspunkte, Gesundheitspolitik, Marktbedingungen, Organisation der Wirtschaftszweige usw.) unterstützt werden.
→ In der Regel lassen sich Muskel-Skelett-Erkrankungen nicht auf einzelne Ursachen zurückführen. Organisatorische und psychosoziale Risikofaktoren können das Risiko von Muskel-Skelett-Erkrankungen beeinflussen.
→ Wer ein Unternehmen führt, kann mithilfe einer Gefährdungsbeurteilung feststellen, ob und in welchem Umfang die Beschäftigten Muskel-Skelett-Gefährdungen ausgesetzt sind. Da Arbeitnehmende häufig mehreren Risikofaktoren gleichzeitig ausgesetzt sind, sollten ganzheitliche Ansätze bevorzugt werden, die verschiedene Faktoren berücksichtigen, einschließlich physischer, organisatorischer, psychosozialer, soziodemografischer und individueller Faktoren.
→ Mit dem Aufbau betrieblicher Gesundheitsförderungsstrukturen und eines Gesundheitsförderungsprozesses bündelt die Unternehmensführung alle Aktivitäten, die die Gesundheit am Arbeitsplatz fördern und erhalten.
Empfehlungen für die Politik
Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie werden mehrere Empfehlungen für politische Maßnahmen zur Prävention vorgestellt.
Ganzheitliche Gefährdungsermittlung
Im Zuge der betrieblichen Gefährdungsbeurteilung wird von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eine systematische Ermittlung und Bewertung relevanter Gefährdungen für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten gefordert. Darauf aufbauend sind Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes festzulegen und durchzuführen, sodass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird (vgl. ArbSchG).
Hier ist zu beachten, dass verschiedene Faktoren zu Muskel-Skelett-Erkrankungen beitragen können, einschließlich physischer, organisatorischer, psychosozialer, soziodemografischer und individueller Faktoren. Diese Faktoren beeinflussen sich meist gegenseitig. Darüber hinaus sollten die Ergebnisse auch in ein Konzept der Gefährdungsbeurteilung eingebunden werden.
Die Forschung hat gezeigt, dass sogenannte „ganzheitliche“ Interventionen, die auf mehrere Risikofaktoren abzielen, gegenüber Maßnahmen, die nur auf einen Risikofaktor abzielen, offenbar effizienter sind und gegenwärtig als erfolgversprechendste Strategie gelten.
Verringerung der Exposition von kombinierten Risikofaktoren für MSE
Bei künftigen Studien sollten die spezifischen Kombinationen von Risikofaktoren für Muskel-Skelett-Erkrankungen genauer untersucht werden, insbesondere inwieweit sich die Risikofaktoren gegenseitig verstärken und wie diese verstärkende Wirkung unterbunden werden kann.
Spezifische Ansätze entsprechend der Prävalenz von MSE
Angesichts der Unterschiede bei Prävalenz, Art und Schwere von MSE zwischen den Wirtschaftszweigen scheint es geboten, branchenspezifische Ansätze zur Reduzierung von MSE zu entwickeln. Um der Prävalenz von MSE nach Geschlecht, Alter und Bildungsstand gerecht zu werden, sollte man differenzierte Ansätze entwickeln. Das zunehmende Risiko von MSE mit dem Alter, dem demografischen Wandel und einem höheren Renteneintrittsalter erfordern spezifische Maßnahmen.
Europäische Agentur
für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
https://osha.europa.eu
Ausgabe
BauPortal 4|2020
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