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Gleisbau

Grundsätze zur Entwicklung und Anwendung der Individuellen Warnung (IW)

Um die Eckpunkte bei der Entwicklung, Herstellung und Anwendung der Individuellen Warnung (IW) als Sicherungsmaßnahme gegen Gefahren aus dem Eisenbahnbetrieb bei Arbeiten im Bereich von Gleisen aus Sicht der Unfallversicherungsträger (UV-Träger) festzulegen, wurde vom Sachgebiet „Arbeiten und Sicherungsmaßnahmen im Bereich von Gleisen“ (SG ASG) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) im November 2019 ein Empfehlungsbeschluss erstellt. Dieser formuliert „Leitplanken“ in Form von drei Kriterien, bei deren Einhaltung die UV-Träger einem Einsatz der IW als Sicherungsmaßnahme bei Arbeiten im Bereich von Gleisen nach dem Geltungsbereich der DGUV Vorschriften 77/78 zustimmen. Veröffentlicht wurde der Empfehlungsbeschluss kürzlich als DGUV-Publikation „Fachbereich AKTUELL“ (FBBAU-002).

Sicherung bei Gleisbauarbeiten
Sicherung bei Gleisbauarbeiten
Bild: BG BAU

Im Laufe der letzten Jahre starteten von unterschiedlichen Interessengruppen mehrere Versuche, um die IW auch bei Arbeiten im Bereich von Gleisen als Sicherungsmaßnahme zu etablieren. Dabei wurden verschiedene Systeme, die in Nachbarländern bereits im Einsatz oder extra entwickelt worden waren, in Deutschland mehr oder weniger erfolgreich getestet.

Nach Untersuchungen durch die Forschungsgesellschaft für angewandte Systemsicherheit und Arbeitsmedizin e. V. (FSA) zum Thema „Die individuelle Warnung – Möglichkeiten und Risiken für das Arbeiten im bzw. am Gleisbereich“ und anschließenden Praxistests wurde mit der DB Fahrwegdienste GmbH ein System entwickelt, das die mit den UV-Trägern abgestimmten Kriterien berücksichtigt und speziell auf die Belange der schnellen Vegetationspflege zugeschnitten ist. Dieses System wird seit ca. 2015 regional bei der DB Fahrwegdienste GmbH eingesetzt.

Im Jahr 2019 wurden an das SG ASG erneut Intentionen herangetragen, die IW über diesen bereits vereinbarten und allseits akzeptierten Einsatzzweck auszuweiten. Das SG ASG ist die spezifische Arbeitsebene des DGUV Fachbereichs „Bauwesen“ und hat die Aufgabe, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz bei Arbeiten im Gleisbereich zu fördern.

Feststellung des Stands der Technik zur IW

Die DB Netz AG als größtes Eisenbahn-Infrastruktur-Unternehmen (EIU) in Deutschland ist aufgrund Beschwerden der gleisnahen Anwohner interessiert, bei Bau-/Instandhaltungstätigkeiten die Belastung der Anwohner durch Schallemissionen bei der Warnung der im oder am Gleisbereich tätigen Beschäftigten zu reduzieren. Gleichzeitig besteht die Verpflichtung den Beschäftigten gegenüber, einen wirksamen und hochwertigen Schutz vor den Gefah-ren aus dem Eisenbahnbetrieb sicherzustellen.

Aus den vorgenannten Gründen erarbeitete das SG ASG des DGUV Fachbereichs „Bauwesen“ einen Vorschlag zur Beschreibung des Stands der Technik bezüglich der Bewertung der IW beim Einsatz als Warnsystem gegen Gefahren aus dem Gleisbereich. Dieser Empfehlungsbeschluss ist anschließend bei der weiteren Bewertung der Individuellen Warnung heranzuziehen.

Definition: Stand der Technik

Der Stand der Technik ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme oder Vorgehensweise zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherheit der Beschäftigten gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Stands der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind (siehe EmpfBS 1114, 03_2018).

Weitere Bewertung der IW

Ziel ist, die Kriterien zur Bewertung und Anwendung der IW verbindlich festzulegen. Durch das Aufstellen gedanklicher „Leitplanken“ sollen die Kriterien vorgegeben werden, innerhalb derer die Entwicklung/Weiterentwicklung und der Einsatz der IW bei Tätigkeiten über die Vegetationspflege hinaus denkbar sind. Dadurch sollen alle Beteiligten – Infrastrukturbetreiber und Hersteller – einen eindeutigen Rahmen hinsichtlich der Grundlagen erhalten. Dieser Standpunkt wurde im Vorfeld zwischen den UV-Trägern, dem Eisenbahn-Bundesamt sowie der DB Netz AG (Fachstelle Arbeitsschutz) abgestimmt, um entsprechende Transparenz herzustellen.

Fachbereich AKTUELL mit Empfehlungsbeschluss

Im Rahmen der Sitzung des SG ASG im November 2019 wurde der erarbeitete „Empfehlungsbeschluss“ des SG ASG an den DGUV Fachbereich „Bauwesen“ zur „Feststellung des Stands der Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse zur Anwendung der Individuellen Warnung bei Arbeiten im Bereich von Gleisen“ beschlossen (Stand: 20. November 2019).

In diesem Empfehlungsbeschluss, der nach Annahme durch den Fachbereich „Bauwesen“ als Fachbereich AKTUELL mit der fortlaufenden Nummerierung „FBBAU-002“ veröffentlicht wurde, sind drei Kriterien formuliert, um eine Auswahl für sichere Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vor den Gefahren aus dem Eisenbahnbetrieb zur Verfügung zu stellen:

Grundlegende Voraussetzungen

Die anzuwendenden Maßnahmen orientieren sich in ihrer Wertigkeit an der EU-Richtlinie 89/391/EWG vom 12. Juni 1989 bzw. dem Arbeitsschutzgesetz.

Dabei gelten folgende allgemeine Grundsätze: Wenn die Gefahr nicht gänzlich vermieden werden kann unter Berücksichtigung des Faktors „Mensch“ (Art. 6 Abs. 2 RL 89/391/EWG):

1. Sicherung vor Warnung,

2. kollektiv vor individuell.

Die DIN EN 16704-1:2017-07 definiert unter 3.36.2 die Individuelle Warnung (IW) als eine „Warnung, die an der Arbeitsstelle arbeitende Personen unter Voraussetzung der korrekten Anwendung der individuellen Warnsignalgeber erreicht“. Dabei ist entsprechend der Anmerkung 1 dort dazu Folgendes zu berücksichtigen: „Ein einfaches menschliches Fehlverhalten kann zu einem Versagen des Sicherungssystems für die jeweilige Person führen. Daher sollte das individuelle menschliche Verhalten aller zu schützenden Personen berücksichtigt werden.“

Die Individuelle Warnung stellt zwar ein technik- oder personenaktiviertes Warnsystem dar, in seiner Wirkungsweise ist die IW jedoch zutiefst von individuellen Faktoren geprägt bzw. abhängig und somit als solches anzusehen.

Kriterium 1

  • Die Individuelle Warnung ist erst dann gerechtfertigt, wenn sowohl aufgrund von Vorgaben aus dem Vorschriften- und Regelwerk als auch durch die Gefährdungsbeurteilung keine sicherere (und i. d. R. höherwertigere) Sicherung möglich ist.

Berücksichtigung des menschlichen Fehlverhaltens

Die angeführte Anmerkung 1 zur Definition der IW in der DIN EN 16704-1:2017-07 weist insbesondere auf das menschliche Fehlverhalten aller zu schützenden Personen als weiteres bei der Anwendung der IW zu beachtendes Kriterium hin.

In umfangreichen Studien wurde seit 2006 durch die FSA untersucht, welche Faktoren das Tragen eines individuellen Warngeräts – als notwendige Bedingung für die Realisierung dieses Sicherungsverfahrens – beeinflussen. Die FSA benennt die Trageakzeptanz, Fehler sowie Faktoren sicherheitsgerechten Verhaltens und leitet daraus Kriterien ab, die das Tragen eines individuellen Warngeräts beeinflussen und das Nicht-Tragen absichern.

Durch Anweisungen bzw. Überzeugungsarbeit, die Geräte zu tragen, können die Ursachen fehlerhaften bzw. sicherheitskritischen Verhaltens nicht sicher vermieden werden.

Die abgeleiteten bzw. gewonnenen Kriterien müssen mindestens insgesamt erfüllt sein, damit die IW als Warnsystem auch das menschliche Fehlverhalten berücksichtigt, und somit für jede Tätigkeit sowie entsprechend den tatsächlich vorhandenen Arbeitsbedingungen gesondert betrachtet werden:

Kriterium 2

  • Vereinbarkeit zwischen auszuführender Tätigkeit und individuellem Warngerät.
  • Redundanz (Nutzung zweier Sinneskanäle).
  • Verfügbarkeit der Geräte.
  • Ausstattung aller Betroffenen.
  • Rückfallebene bei Nicht-Tragen.

Regelkonforme Umsetzung

Wenn die Kriterien 1 und 2 erfüllt sind, ist die Umsetzung entsprechend den Vorgaben aus dem Vorschriften- und Regelwerk durch technische Maßnahmen zu gestalten. Dabei sind folgende nicht abschließende Kriterien zu beachten, die allesamt unter allen möglichen Arbeitsbedingungen sichergestellt werden müssen:

Kriterium 3

  • Beachtung der Anforderungen an die Warnung.
  • Beachtung der Anforderungen an die Interaktion Mensch-Warngerät.
  • Ergonomische Anforderungen an das individuelle Warngerät.
  • Berücksichtigung von Stand der Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene.
  • Beachtung der Persönlichkeitsrechte und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit.
  • Berücksichtigung der Vorgaben aus anderen Vorschriften, z. B. der „Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Benutzung persönlicher Schutzausrüstungen bei der Arbeit (PSA-Benutzungsverordnung – PSABV)“ sowie der DGUV Vorschrift 1 (nicht abschließend).
Ablauf der Prüfung zur Individuellen Warnung
Ablauf der Prüfung zur Individuellen Warnung
Bild: FBBAU-002
DGUV Vorschrift Fachbereich Bauwesen
DGUV Vorschrift Fachbereich Bauwesen
Bild: DGUV

Informationspublikation „Fachbereich AKTUELL“

Dieses Format ist entwickelt worden, um den Fachbereichen der DGUV zu ermöglichen, bei erkanntem Bedarf bzw. erkannter Notwendigkeit zu aktuellen Themen, Entwicklungen und Erkenntnissen aus dem Bereich Sicherheit und Gesundheit kurzfristig zu publizieren. Für eine klare Abgrenzung zu den bestehenden Publikationen und um ein Alleinstellungsmerkmal mit Wiedererkennungswert zu schaffen, wurden eine neu geschaffene einheitliche Bezeichnung und ein einheitliches Design verwendet. Die konkreten Inhalte werden im jeweils federführenden Sachgebiet/Fachbereich erarbeitet und im Fachbereich beschlossen. Zur eindeutigen Identifizierung erfolgt eine fortlaufende Nummerierung. Die Informationspublikation „Fachbereich Aktuell“ ist dabei rechtlich gesehen analog zu einer DGUV Information. Die Überprüfung auf Aktualität hat alle drei Jahre zu erfolgen.

Fachbereich AKTUELL FBBAU 002 kann hier bzw. unter dem Webcode p021436 als PDF auf https://publikationen.dguv.de heruntergeladen werden.

Voraussetzungen für den Einsatz der IW

Das Warnsignal muss als Warnsignal erkannt und wahrgenommen werden, d. h., es muss bekannt, vertraut und dem Regelwerk entsprechend sein. Weiterhin sind beim Einsatz der IW die persönlichen Voraussetzungen sowie die konkreten Arbeitsbedingungen bzgl. der Interaktion zwischen Mensch und Warngerät zu beachten bzw. zu berücksichtigen.

Beeinflusst das Tragen eines individuellen Warngeräts (PSA) die Beschäftigten beim fachgerechten Ausführen der Arbeiten (Stichwort Ergonomie)? Weiterhin ist zu beachten, dass die PSA unter Berücksichtigung der Maßnahmenhierarchie (T-O-P) die niedrigste Ebene darstellt. Der Grundsatz lautet: Vermeidung von PSA durch höherwertige Maßnahmen. Als Lösung wäre gemäß FBBAU-002 die Integration in vorhandene/akzeptierte und aufgrund der Arbeiten notwendige PSA im Zusammenhang mit homogenen Tätigkeiten möglich.

Entsprechend dem Ablaufschema (s. unten) müssen die drei Kriterien insgesamt erfüllt sein, damit die IW für den konkreten Einsatz- und Einzelfall als sichere und sicherheitstechnisch gerechtfertigte Sicherungsmaßnahme gegen Gefahren aus dem Eisenbahnbetrieb seitens der UV-Träger akzeptiert werden kann.

Mögliche Fragen, die im Zusammenhang mit der IW weiterführend zu stellen sind (Auflistung nicht abschließend):

  • Wie sind die Verantwortlichkeiten bei der Anwendung der IW auf einer Baustelle verteilt?
  • Wem gehören die Geräte? Wer hat was auf der Baustelle „bereitzustellen“?
  • Welcher Teil der Geräte wird als PSA angesehen?
  • Wie ist die IW hinsichtlich der arbeitsmedizinischen Vorsorge einzuordnen?
  • Wie sind die Abläufe bei unvermitteltem Absetzen bzw. wenn festgesellt wird, dass ein Gerät nicht getragen wird?
  • Wie ist die IW in der Wertigkeit der kollektiven Sicherungsmaßnahmen im Regelwerk des EIU einzuordnen?
  • Wie gestaltet sich die Kommunikation zwischen Baustelle und Betrieb bei Verwendung von IW?

Fazit

Die Fachbereich-AKTUELL-Ausgabe FBBAU-002 „Anwendung der Individuellen Warnung bei Arbeiten im Bereich von Gleisen“ ist eine deutliche Formulierung des Rahmens bzw. der gedanklichen „Leitplanken“, in denen der Einsatz der Individuellen Warnung über die schnelle Vegetationspflege hinaus vorstellbar ist. Die Bedingungen sind: sichere Anwendung, sichere Zweckerfüllung und sichere Verwendung.

Das Nachdenken über andere Lösungen unter dem Gesichtspunkt des schwieriger werdenden Umfelds, gerade in urbanen Gebieten, ist legitim. Das einsatzfertige Ergebnis muss aber den hier formulierten Stand der Technik erfüllen und damit den Anforderungen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten entsprechen. Die FBBAU-002 stellt keine neuen Resultate vor, sondern fasst die bisherigen Erkenntnisse zusammen. Sie stellt den derzeitigen Stand der Technik fest, wird verbindlich zur Anwendung und ist somit bei Entwicklung, Herstellung und Anwendung neuer IW zu berücksichtigen.

Autor

Dipl.-Ing. Peter Krausche

BG BAU Prävention
Referat Arbeiten und Sicherungsmaßnahmen im Bereich von Gleisen


Ausgabe

BauPortal 3|2020